Am Wochenende feierten wir den 70. Geburtstag meiner Mutter. Ihr eigentlicher Geburtstag liegt zwar schon zwei Monate zurück, aber wie es so ist, sollte dieser "runde" Geburtstag mit einer größeren Feier gewürdigt werden. Nun stammt meine Mutter aus einem kinderreichen Haus und hat heute noch 10 Geschwister. Diese haben natürlich wiederum Kinder und Kindeskinder (gerne ein "und so weiter einfügen).
Will heißen: Unsere Familie ist sehr groß. Erst recht dann, wenn man noch die Cousins und Cousinen meiner Mutter mit ins Boot holt und es wundert nicht, dass wir zu dieser Feier letzten Endes ein ganzes Hotel belegen mussten um alle Gäste unterzubringen. Der ganze Tag war ein einziges "Hallo" und "weißt Du noch" und die Zeit verging im Fluge. Am nächsten Tag gab es noch ein großes gemeinsames Frühstück und danach machten sich alle wieder auf jeden einzelnen Winkel Deutschlands zurück zu erobern.
Meine Kinder, die den größten Teil dieser Riesenfamilie kaum oder nur flüchtig kennen, freuen sich immer sehr auf diese sehr seltenen familiären Zusammenkünfte. In aller Regel treffen sie in den Kindern meiner Cousins oder Cousinen dort auf Gleichaltrige. Irgendwie zwar fremde Kinder, doch qua des Status "Familie" dennoch unsichtbar vertraut. Ich glaube diese unsichtbare Verbindung "Familie" macht es ihnen leichter sich zu öffnen und innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne eine ad-hoc Freundschaft einzugehen und ebenso wie die Erwachsenen (die sich in der Regel schon lange kennen) eine wirklich gute Zeit zu haben. Diese Selbstverständlichkeit, mit der die Kinder sich dort zusammenfinden hat mich mehrfach schon erstaunt und in mir die Frage aufkommen lassen, ob Familie (und zwar nicht nur die enge, weitere Familie, sondern auch die "weitere" Familie) nicht doch durch dieses "unsichtbare Band" aneinander gebunden oder miteinander verbunden sind. Die Kinder empfinden offensichtlich so etwas, denn die scheinbare Sicherheit dieses familiären Rahmens lässt sie sich nicht nur öffnen, sondern sie entwickeln darüber hinaus auch eine gewisse Neugier.
So hat sich mein älterer Sohn, wohlerzogen wie er ist (übrigens der Verdienst des Vaters ) bei unserer Ankunft auf den Weg durch die Menge gemacht um sich überall vorzustellen. Dabei kam er mit dem Cousin meiner Mutter, einem fast 70 jährigen Ingenieur ins Gespräch. Die beiden teilten sich den Tisch beim Abendessen und unterhielten sich lange, tauschten am Ende die Email-Adressen aus und verabschiedeten sich am Ende des Wochenendes wie zwei alte Freunde. Ich wunderte mich ein wenig über dieses Gespann, freute mich aber andererseits darüber, das mein Sohn insgesamt ein so großes Interesse an der Familie zeigte. Meine Nachfragen allerdings, worüber man sich unterhalten hatte wurden mit einem "alte Geschichten" lapidar abgetan. Inzwischen weiß ich aber, was die beiden verabredet hatten.
Am Montag traf eine Email für meine Kinder ein, gesendet von ebenjenem Cousin meiner Mutter und es ging um folgenden Umstand:
Die Ur-Ur-Großmutter meiner Kinder, geboren 1875, las den Kindern der Familie in der Adventszeit am Abend besinnliche Geschichten vor. Sie lebte mit meinen Großeltern und meinen Tanten und Onkeln in einem Haus und eines der Kinder, die in den Genuss dieser Geschichten kamen war dementsprechend meine Mutter und auch der beschriebene Cousin, der in diesem Haus viel Zeit verbrachte. Diese Geschichte hatte den Kindern damals wohl sehr gut gefallen und das Vorlesen mit der damaligen Großmutter (meiner Ur-Großmutter, der Ur-Ur-Großmutter meiner Kinder) war immer eine gemeinsame Erinnerung. Nur - die damalige Lieblingsgeschichte war irgendwann Abhanden und in Vergessenheit geraten. Nun aber hatte der Cousin meiner Mutter meinem Sohn von ebenjenen adventlichen Abenden erzählt und auch davon, dass er in alten Familiensachen jene Geschichte wiedergefunden hatte.
Das war der Gegenstand der Unterhaltung meines Sohnes mit dem Cousin meiner Mutter, den mein Sohn bis dato nicht kannte und neben der Geschichte um diese Weihnachtsgeschichten haben wir nun auch die tatsächlichen Geschichten im Haus.
Ich wollte Sie meinen Kindern vorlesen, doch sie wollen damit warten. Auf meine Mutter, die uns in der kommenden Woche einige Tage besuchen kommt. Denn irgendwie, so erfuhr ich es von meinen Kindern, wäre es doch richtiger diese Geschichten von der Großmutter zu hören. So wie die Großmutter sie von Ihrer Großmutter hörte.
Warum ich Euch das Alles erzähle?
Weil ich es schön finde, wenn meine Mutter meinen Kindern diese Geschichte vorlesen wird. Wenn eine Generation übersprungen wurde und nun die Chance besteht, das etwas Altes wieder aufgegriffen wird. Weil ich es schön finde, wen in einer Familie so etwas nicht verloren geht.
Und weil ich Euch anregen wollte diese Geschichte zu lesen. Sie ist gemeinfrei und im Projekt Gutenberg zu finden. Und sie ist am Schönsten, wenn Sie vorgelesen wird. Ihr solltet Euch überlegen, wem ihr sie vorlesen könnt. So verbringt ihr Zeit bei einer schönen Geschichte und wer weiß, vielleicht entsteht bei dem ein oder anderen von Euch eine kleine familiäre Tradition, in der sich Kinder an das Vorlesen in der Adventszeit erinnern und es später auch tun:
Selma Lagerlöf, Christusgeschichten. Kapitel 5: Flucht aus Ägypten